Vor vielen Monaten habe ich meine Haare abrasiert und aufgehört sie zu färben. Seitdem habe ich viel gehört und gelesen. Wurde viel gefragt und manches mal sogar bestaunt. Es gab und gibt wirklich sehr viele ganz unterschiedliche Reaktionen auf meine Haare. Grund für mich einen Blog zu schreiben.
Warum so kurz?
Schon immer habe ich Frauen mit ganz kurzen Haaren bewundert. Sinéad O’Connor, SKIN, Frida Gold, Stefanie Heinzmann, …Einerseits fand ich diese Frauen extrem mutig und stark, andererseits schienen mir diese Frauen auch sehr zerbrechlich. Sie alle habe ich für ihren Mut bewundert ,und so hätte ich mir auch gerne meine Haare abrasiert, habe mich aber nie getraut .
Für mich haben Frauen mit kurzen Haaren nie maskulin gewirkt, ganz im Gegenteil, eher unverstellt, echt, sensibel und dadurch sehr feminin.

Warum erzeugen meine Haare so viel Aufmerksamkeit?
Ich vermute, es liegt daran, dass es so wenig Frauen mit abrasierten Haare gibt. Noch immer gehören zum Idealbild einer Frau lange Haare. Ein Bekannter meinte, dass es heutzutage keinen Mut mehr erfordert als Frau die Haare abzurasieren. Ich bin der Meinung, doch, es gehört Mut dazu. Auch das Feedback von anderen Frauen, die mir erzählt haben, dass sie auch gerne ihre Haare einmal abrasieren würden, sich aber nicht trauen, haben mir dies gezeigt. Bei einem Kindergeburtstag meinte ein Mädchen, es würde so gerne so kurze Haare wie meine Tochter tragen (kinnlang), aber ihre Eltern erlauben es ihr nicht. Mein Sohn kam eines Tages von der Schule und erzählte mir, die Eltern von seiner Mitschülerin hätten mich mit Perücke beim Einkaufen gesehen. Nein, ich trage keine Perücken.
Eine Frage über Facebook Messenger:
– Darf ich Dich mal etwas Persönliches fragen?
Ich: Klar, warum nicht, ich kann ja immer noch selbst entscheiden, ob ich darauf antworte.
– Warum hast Du Deine Haare abrasiert, da steckt doch bestimmt etwas dahinter?
Ich: Ja, klar, ganz viel und vielleicht auch eigentlich ganz wenig. Ich fand Frauen mit dieser Frisur schon immer sehr stark, beeindruckend und mutig, gleichzeitig jedoch auch zerbrechlich. Ich vermute ich hatte einen starken Moment in dem ich sehr zerbrechlich war 😉
Frauen, traut euch!
Liebe Frauen, ich kann euch sagen, ich habe keinen Minute bereut, dass ich meine Haare abrasiert habe. Teilweise ergeben sich wunderbare Gespräche aufgrund meiner „außergewöhnlichen“ Frisur. Ich habe tatsächlich dadurch schon einige sehr nette Menschen kennenlernen dürfen. Natürlich gibt es auch übergriffige und verletzende Kommentare. Jedoch zeigt sich in diesen nur die Unsicherheit des Gegenübers.
Ein weiterer großer Vorteil von abrasierten Haaren ist die Zeitersparnis beim Duschen: Haare einmal unter Wasser halten, schrubbeln, fertig. Und das Beste: Menschen, die nur auf Äußerlichkeiten und idealisierte Frauenbilder stehen halte ich mir mit meiner schönen Frisur vom Leib!
- Zitate
- Stoppelkopf
- Sturmfrisur
- Deine Haare triggern mich, schließlich gibt es Menschen, die eine Chemo hatten und dann genau so aussehen wie Du und diese Menschen mussten sehr viel mitmachen.
- Mit Deinen kleinen Kindern bist Du für graue Haare noch zu jung.
- Ganz ehrlich, zwischendurch gefallen mir Deine Haare überhaupt nicht.
- Kampflespe
- Wann lässt Du Deine Haare wieder wachsen? Das sieht schon sehr männlich aus.
- Mit den langen Haaren warst Du schmeichelhafter und weiblicher
- Wolltest Du ein politisches Statement setzen?
- Dein Grau sieht so fleckig aus.
- Ich wollte auch schon immer so kurze Haare haben, aber ich trau mich einfach nicht.
- Sieht klasse aus.
- Meine Godi hat die gleiche Frisur, die ist lesbisch.
- Hat was!
- Echt mutig. Ich wollte das auch immer machen aber trau mich nicht.
- Was haben Deine Eltern dazu gesagt? (Anmerkung: Ich bin >40!)
- Dich erkennt man ja gar nicht mehr.
- Hast Du es nicht bereut?
- Mega stark!
- Mama, kannst Du mal raus kommen, ich will Dich meinen Freunden zeigen, die glauben mir nicht, dass Du Deine Haare abrasiert hast.
Mein persönlicher Hintergrund
Im letzten Jahr hatte ich sehr viele Selbstzweifel. Mein „neues“, offizielles Künstlerleben, hat mir viel Angst gemacht. Was bringt die Zukunft? War es die richtige Entscheidung? Bin ich Künstlerin? Bin ich Musikerin? Habe ich ein Recht mich als professionell zu bezeichnen? Bin ich genug? Ich habe mich sehr unsicher, oft auch einfach schlecht gefühlt. Im September 2022 fand dieses schlechte Gefühl seinen Höhepunkt.
In dieser schwierigen Phase habe ich wirklich sehr viel gelernt: Ich lernte, dass Verletzlichkeit überhaupt keine Schwäche ist. Das Tränen wichtig sind, weil sie helfen, zu klären. Ich habe gelernt, dass eine Welt in Scherben gar nicht schlecht sein muss, im Gegenteil, sie gibt die Chance alles neu zu ordnen und neu aufzubauen. Aber das Wichtigste was ich gelernt habe war, dass es überhaupt nicht um all die fremden Stimmen von außen geht, sondern dass einzig und alleine meine Stimme zählt.
Übergriffiges Dorfgespräch:
– „Darf ich Dich mal was fragen“
Ich: „Klar“
– „Wegen Deiner Sturmfrisur. Nein, entschuldigung, also wegen Deinen kurzen Haaren.“
Ich: „OK“
– „Sieht echt gut aus. Aber Du bist nicht krank, oder?“
Ich: „Danke, mir gefällt es auch sehr gut. Nein, ich bin nicht krank. Mir geht es sehr gut“
– „Ah, zum Glück. Dann kannst Du Dir die Frisur ja auch wieder raus wachsen lassen.“
Nach dieser Erkenntnis hatte meine Stimme mir auf einmal sehr viel zu sagen.
Sie sagte mir, dass ich schön bin, ganz egal ob ich lange, kurze, rote, blonde oder graue Haare habe. Dass ich sehr stark bin und vor nichts Angst haben muss. Dass ich genaus so, wie ich bin, richtig und absolut genug bin. Dass ich das Wertvollste bin was ich habe. Meine Stimme erinnerte mich auch daran, dass ich schon immer gerne mal meine Haare abrasieren wollte, mir aber immer der Mut gefehlt hat wegen der „Stimmen von außen“. Sie gab mir den Mut und die Kraft es endlich zu tun.
Haargespräch mir einer sehr weitläufigen Bekannten:
– „Wow, tolle Frisur“
Ich: „Danke“
– „Doch echt, sieht richtig gut aus.“
Ich: „Danke, das freut mich.“
– „Also im Ernst jetzt, ohne Scheiß, es sieht wirklich super aus.“
Ich: „Ja, mir gefällt es auch.“
Momentan fühle ich mich sehr wohl mit meinen kurzen, grauen Haaren.
Meine kurzen Haare bedeuten für mich, darauf zu achten, auf meine eigene Stimme zu hören.
Meine kurzen Haare sollen mich daran erinnern, nicht zu urteilen oder zu werten.
Weder mich selbst, noch andere Menschen.
Meine kurzen Haare stehen für Stärke, Mut und Zerbrechlichkeit.
Noch immer erlebe ich Momente des Zweifelns und noch immer suchen mich hin und wieder schlechte Gedanken heim. Dann erinnern mich meine Haare daran wie wetvoll und mutig ich bin.
Anmerkung
Diesen Blog habe ich schon vor ein paar Monaten geschrieben, ihn jedoch nicht veröffentlicht. Weil ich der Meinung war, dass meine Frisur der Welt völlig egal sein sollte. Ist sie aber nicht. Das habe ich gelernt. Weder für mich noch für die Gesellschaft. Ich wünsche mir jedoch, dass sie es wird.
Danke an Lena P. (weltbeste Mental Choach) ❤